Messer, Felsen, Bäume, Fluss?

Ich hab nach dem Gegenteil gesucht, nach dem Schweizer Autor Hansjörg Schneider, der ein Beispiel dafür ist, wie das Aufwachsen an einem Fluss Kinder prägt, wie sie als Erwachsene in und an Flüssen Entspannung finden und zu sich kommen. Das tun Hansjörg Schneider und sein Kommissär Hunkeler am Rhein bei Basel. Das weiß ich von Menschen, die ihre Kindheit mit einem Fluss verbracht haben.

Ein schönes Beispiel ist das Kinderbuch „Ein Tag am Fluss“ von Reinhard Michl. Auf meiner Suche bin ich auf einen Zeitungsartikel gestoßen über die Aare, den Kindheitsfluss von Hansjörg Schneider. „Flüsse sind prinzipiell nicht geeignet für Kinder“ – steht da, eine Aussage der Schweizerischen Lebensrettungsgesellschaft SLRG. Durchaus plausibel, liest man, wie es heutzutage auf diesem Fluss – eher: diesem Substrat für Trendsportarten – zugeht. Liegewiese, Badeanstalt, Bungeesurfing…. nicht Schilfwildnis, Kiesbank, Fische unterm Wurzelwerk.

Fluss ist nicht gleich Fluss. Einen Kommentar zum Artikel findet man aber auch gleich: Ein Vater schreibt, dass er und seine Familie natürlich in der Aare schwimmen; seine Kinder können das! Damit bin ich bei meinem querdenkerischen Thema angekommen.

Unsere Kinder können das.

Mit dem Taschenmesser umgehen, auf Bäume klettern, auf Felsen kraxeln, in Bergbäche hüpfen. Wenn wir sie lassen. Das alles ist prinzipiell was für Kinder, ihr natürlicher Lebensraum nämlich! Bei Gesprächen auf dem Jugendteamtreffen Edelweiß Island ist immer wieder angeklungen: „Ja, wir lassen sie, aber wenn Eltern dabei sind, sieht das anders aus“. Da sind dann blutige Knie, dreckige, nasse Klamotten, Verschwinden im Wald, auch mal anstrengend, oft Probleme. Ich hab auch andere Erfahrungen gemacht. „Ich hab nicht gewusst, dass es den ganzen Tag draußen auf einer Wegstrecke von einem Kilometer mit Kindern so spannend sein kann!“

Diese Gelegenheiten und Erfahrungen müssen wir Eltern zusammen mit ihren Kindern möglich machen. Es kann dauern. Es wird oft mühsam sein. Aber es lohnt sich. Meine Erfahrungen und mein Zutrauen in die Potenziale natürlicher Lebensräume machen mich sicher. Wir sind kein Aufbewahrungsort für Kinder gestresster Eltern, aber wir können gestresste Eltern zu sich finden lassen, wenn sie erfahren, dass sie ihre Kids ruhig eigenverantwortlich unterwegs sein lassen dürfen. Auch mal ins Wasser fallen oder im Wald verschwinden. Die wollen uns nicht verlieren! Kinder müssen sich ausprobieren dürfen. Dazu brauchen sie uns nicht als Animateurinnen oder Animateure, sondern als Begleiter und Begleiterinnen, die mit ihnen auf Augenhöhe unterwegs sind. Wir dürfen den Eltern etwas zu-Muten. Das ist oft ein sich Zurücknehmen, wenn Feuer und Wasser und das Taschenmesser nah sind.

Ein Kind braucht zu-Trauen und eigenverantwortliches Um-gehen in seiner Welt. Fast hätte ich mich nicht zurückgehalten, was zu sagen: An einem Aussichtspunkt sehe ich ein rosa bekleidetes etwa dreijähriges Mädchen auf einer schrägen Kalkfelsenplatte mit natürlichen 20 Zentimeter – Stufen sehr konzentriert auf- und absteigen. Es übt. Es lernt. Es hat offensichtlich Spaß daran. Der Vater lamentiert: „Lass das, komm her, du wirst dir wehtun! Du wirst fallen!“ Das Kind ist weiter konzentriert bei seiner Sache. Der Vater versucht es noch ein paar Mal erfolglos. Dann zerrt er das Mädchen weg. An einem Arm. Es strampelt, wehrt sich, brüllt – mit Recht!

Kommen wir zum Schluss nochmal „in den Fluss“ – der ist prinzipiell was für Kinder, wenn er ein Lebens- und Erlebnisraum ist und wenn Eltern gelernt haben, mit ihm umzugehen. Das ist in Zukunft unsere Aufgabe und große Chance: Eltern, die schon der „missing link“ in Bezug auf Erfahrungen in und mit natürlichen Lebensräumen sind, geduldig, ausdauernd und zuversichtlich Gelegenheiten zu geben, zum „Begeisterung-finden“ und „los- Lassen“. Wir müssen Eltern mit ihren Kindern „in (den) Fluss“ kommen lassen.

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Biologin, Beauftragte für Kinder und Familien, Mutter und Großmutter und am liebsten draußen unterwegs.

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