Heroische Nordwand bei Sonnenaufgang, kühne Freeride-Abfahrten im besten Pulverschnee, Trailrunner am Limit – durch omnipräsente digitale Medien werden wir mit heldenhaften Bergbildern überflutet wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Beeinflusst die visuelle Dauerbeschallung in den sogenannten sozialen Medien unsere persönliche Risikoeinschätzung am Berg?

ES IST, WIE IM ECHTEN LEBEN AUCH, EIN ZUTIEFST MENSCHLICHES STREBEN NACH ANERKENNUNG, DAS UNS IMMER WIEDER AUF DIE BUNTEN ICONS AUF UNSEREM SMARTPHONE DRÜCKEN LÄSST. STATT EINEM SCHULTERKLOPFER GIBT ES IM DIGITALEN EBEN EIN HERZCHEN ODER HUNDERT, STATT EINER AUFMUNTERNDEN BEMERKUNG EINEN SHARE. UND WENN MAN EINMAL EINEN KLEINEN GLÜCKSSCHUB DURCH SEIN POSTING BEKOMMEN HAT, DANN WILL MAN SELBIGEN EBEN IMMER UND IMMER WIEDER.

Die einfache Gleichung lautet: Mehr Nutzer*innen, mehr Zeit auf der Plattform, mehr Verbindungen, mehr Interaktion ist gleich mehr Werbeeinnahmen. Diesem Maximierungsprinzip ist das gesamte Design der Apps und Websites untergeordnet und bedient sich letztlich der Verletzlichkeit der menschlichen Psyche. Bepreist wird also nicht das Produkt, sondern die Daten all jener, die kostenfrei ein Nutzerprofil auf der Plattform anlegen und dort hegen und pflegen.

Berge und Social MediaTendenziell werden die meisten von uns natürlich ihre Schokoladenseite im virtuellen Raum präsentieren, eher die epische First Line posten als den Tag im Homeoffice. Man präsentiert sich und es geht darum, möglichst charmant, witzig und clever rüberzukommen. Deshalb sind soziale Medien abseits aller wissenschaftlichen Evidenz in erster Linie ein Fegefeuer der Eitelkeiten. Ganz im Sinne von: ICHSchau her, wie schön mein Leben ist! Es lässt sich behaupten: Die kleinen Supercomputer in unseren Hosentaschen haben nicht nur unseren Medienkonsum in bemerkenswert kurzer Zeit radikal verändert, sie haben auch Auswirkungen auf unser individuelles und gesellschaftliches Handeln, unser Verhalten.

MEHR MENSCHEN AM BERG, MEHR UNFÄLLE?

Ein Beispiel dafür ist die Auswahl der Tourenziele: Genaue Zahlen sind unmöglich festzumachen, man kann aber annehmen, dass bei der gegenwärtigen Verbreitung auch entsprechend viele Bergziele anhand von online veröffentlichten Fotos inspiriert werden. Eindrucksvolle Lokalbeispiele gibt es genug: Als vor wenigen Jahren im Spätherbst die Bedingungen für die Mixed-Tour in der Nordrinne am Zwölferkogel in den Stubaier Alpen gut waren und dies auch publik gemacht wurde, kamen die Wiederholer in Scharen. Es war gruppendynamisch so auffällig, dass ein Bergführer bereits mit der Idee kam, ein „Zwölferkogel 2019 – Ich war dabei“- T-Shirt drucken zu lassen.

Oder Matterhorn Nordwand, gleiches Verhaltensmuster: Eine Person mit entsprechender Reichweite innerhalb der Community postet, die Verhältnisse wären gerade bombastisch – prompt wird die Wand geradezu belagert. Eiger Nordwand, März 2022 – eine sehr auffällige Häufung von Begehungen, Locals vor Ort1 warnen vor einer überfüllten Heckmair-Route mit Heli-Rettungen wegen Steinschlag, übervollen Biwak-Plätzen und Stau vor Schlüsselstellen.

Wobei man hier klar differenzieren muss: Potenzielle Wiederholer*innen solcher extremen Touren sind sich der Gefahr in den allermeisten Fällen wohl bewusst und der Herausforderung meistens auch gewachsen. Im Falle des Zwölferkogels gibt es bis heute – trotz massenhafter Begehungen bei teils schlechten Verhältnissen – keinen einzigen Bergrettungseinsatz zu verzeichnen; wäre das Gebiet vor 20 Jahren in dem Umfang begangen worden, die Statistik hätte wohl anders ausgeschaut.

Die Social-Media-Kanäle treten hier also als zusätzliche, zeitnahe und wertvolle Informationsquelle auf und kanalisieren Bergsteiger*innen in bestimmte Gebiete oder Routen (frei nach: „Schau an, es geht, also nichts wie hin“). Was durchaus seine Vorteile haben kann: Neben Schneeprofilen, Messstationen und Lawinenlagebericht sind für viele diverse Facebook-Gruppen mittlerweile ein fixer Bestandteil der Tourensuche, um die aktuellen Bedingungen besser einschätzen zu können. Neben der Ausrüstung wird also auch die Informationsfülle deutlich dichter, mit derman sich auf Touren vorbereiten kann. „Durch die vielen Fotos und Berichte kann man sich ein super Rundumbild verschaffen.

Vor allem, wenn man sich gut auskennt und auch Nachbarberge und Täler kennt, reicht oft die Beschreibung einer Tour, um sich ein Bild eines ganzen Talkessels machen zu können“, verrät Thomas Wanner, Bergsportexperte beim Österreichischen Alpenverein.

VIVA LA GRUPPENDRUCK

Social-Media-Kanäle bedienen die Alpenvereine nicht, weil es gerade hip ist, sondern auch, weil es eine neue Form der Öffentlichkeitsarbeit darstellt. Und weil sich manche, vor allem jüngere Zielgruppen nur noch so erreichen lassen.

„Gerade junge Menschen sind, ob in ihrer Sturm-und-Drang-Phase oder wegen fehlender Erfahrung, besonders anfällig für gefährliches Halbwissen und in der Phase der Selbstfindung einer ausgeprägten Bringschuld in Sachen Selbstvermarktung ausgesetzt“,

weiß Dani Tollinger, die Koordinatorin des risk’n’fun-Ausbildungsprogramms des Österreichischen Alpenvereins für junge Menschen. Frei nach dem Motto: „Was die kann, kann ich auch.“ Weil plötzlich nicht mehr nur die Dorfkinder die Peergroup sind, sondern man sich im Digitalen gleich mit der ganzen (westlichen)? Welt messen kann (oder vielleicht sogar muss), liegt die Latte naturgemäß gleich deutlich höher. The pressure is on!

Wenngleich Tollinger präzisiert: „Nach meinen Beobachtungen sind es nicht so sehr die megabekannten
Freerider*innen, die auf junge Leute Druck aufbauen, es passiert eher ganz nah an der eigenen Lebenswelt. Es ist mehr der eigene Freundeskreis, der pushed und anschiebt. Diesen Mechanismus zu entlarven und sich die Frage zu stellen,
„Was macht das mit mir?“, hilft sehr, im Gelände entspannter zu bleiben.“

Was es aber auslöst, wenn man via soziale Medien immerwährend sieht, was denn „alle anderen“ gerade so Episches da draußen machen, ist stark abhängig von der eigenen Persönlichkeit und „wie das Selbstwertgefühl kalibriert ist“, weiß Alexis Zajetz, Psychotherapeut und Mitglied im ÖAV-Lehrteam „Gruppen leiten“. „Mit gutem Selbstwert kann man aber über der Selbstdarstellung der anderen stehen und diese vielleicht spannend, aber nicht pushend finden. Wenn mein Ideal-Ich von meinem Real- Selbst aber weit entfernt ist, kann so eine idealisierte Darstellung bei manchen Leuten schon einen Risikoschub auslösen. Der Versuch, diesen Idealen zu entsprechen, kann einen über die eigenen Grenzen schieben.“

APROPOS VERANTWORTUNG

Es findet ein langsames Erwachen statt, digital Aktive werden sich mehr und mehr ihrer Verantwortung bewusst, vom privaten Boulder-Erschließer bzw. der privaten Boulder-Erschließerin bis zum Star der Freeride-Worldtour. Ein Element davon ist das Geotagging, das exakte Verorten des Bildes oder Videos. Lässt man Namen und GPS-Daten bewusst weg, ist es meist nur mehr ortskundigen Personen möglich, einen Post geografisch zuzuordnen – was potenzielle, der Herausforderung eventuell nicht gewachsene Follower davon abhält, die Action am Foto für ein paar Likes zu reproduzieren und sich dabei möglicherweise in Gefahr zu bringen.

Diese Dynamik können die Alpenvereine, Fachmedien und -organisationen aber auch Private als Chance begreifen, die wichtige Zielgruppe mit adäquaten Inhalten genau dort abzuholen, wo sie sich aufhält. Sie alle können mit intelligenter Präventions- und Jugendarbeit den Mut zum gesunden Risiko propagieren und gleichzeitig, Post für Post, Selbstüberschätzung verhindern. Und bei jungen Menschen ein Selbstbewusstsein aufbauen, das nicht im Wettbewerb um quantifizierte Aufmerksamkeit entsteht, sondern in sozialer Verantwortung gegenüber Mitmenschen.

Gedanken über Verantwortung von Pro-Skier Arianna Tricomi nach dem Tod eines jungen Freeriders nach einem Lawinenunglück 2021: Link zum VIDEO

THE CHALLENGE IS ON

Die Fütterung von Social-Media- Accounts ist eine Gratwanderung zwischen dem Mythos einer akribisch angestrebten Individualität und einer plattformspezifischen Konformität. Neben der oft sehr sinnvollen und kostengünstigen Möglichkeit, eine junge (oder gar nicht mehr so junge) Zielgruppe mit wertvollen Informationen zur möglichst sicheren Ausübung der Leidenschaft Bergsport zu versorgen, heißt es eben auch, sich seiner Verantwortung bewusst zu sein und sich zu fragen: Braucht es diesen Post jetzt wirklich? Welche Vorstellungen vermittle ich den Rezipient*innen damit? Passt er in den aktuellen Kontext? Natürlich gibt es kein Patentrezept für den „richtigen“ Umgang mit den (a)sozialen Medien, die Technik ändert sich ohnehin schneller, als sich die Konventionen dazu entwickeln.

Wichtiger sind Überlegungen, die über der Technik stehen: Es geht um ein bewusstes Innehalten vor dem Drücken auf den Publish-Button, um ein gezieltes Langsamwerden. Es geht darum, die Kultur des Sensationalismus hinter sich zu lassen und sich wieder vermehrt fundierten Debatten zu widmen – um beispielsweise emotionalen Zuspitzungen gekonnt zu kontern. Es geht auch darum, die profitmaximierenden Geschäftspraktiken der Plattformen zu verstehen und entsprechend reflektiert zu handeln. Schlussendlich kumuliert das in einem Gedanken, den man bereits von den eigenen Eltern zur Genüge gehört hat: Du musst nicht überall mitmachen, nur weil es alle anderen tun. Und nicht überall reinfahren, nur weil es andere gepostet haben.

WELCHE WERTE WILL ICH MIT MEINEN DIGITALEN INHALTEN VERMITTELN? KANN ICH MIT MEINEN POSTS VIELLEICHT JEMANDEM ETWAS SINNVOLLES BEIBRINGEN, HÄPPCHEN FÜR HÄPPCHEN? ES GEHT UM EINEN NEUEN RESPEKT VOR MUTTER NATUR, DIE NICHT ZUR REINEN KULISSE FÜR PERSÖNLICHE INSZENIERUNGEN DEGRADIERT WERDEN WILL, SONDERN DAS FUNDAMENT ALLEN LEBENS IST. WER SICH IN IHR BEWEGT, SOLLTE DAS (WIEDER) AUS EIGENEM, INNEREM ANTRIEB TUN UND NICHT, WEIL ER DENAKUTEN BLÄHUNGEN IRGENDEINER COMMUNITY FOLGT.

Disclaimer: Dieser Artikel stellt keinesfalls den Anspruch, eine wissenschaftliche Studie zum Zusammenhang der sogenannten sozialen Medien und dem Risikoverhalten am Berg zu ersetzen. Dennoch sind wir, nicht zuletzt durch die sehr zahlreichen Rückmeldungen aus der Community während der Recherche, überzeugt, dass es sich dabei um ein reales und gesamtgesellschaftliches Phänomen handelt, bei dem uns jede Diskussion weiterbringt. Wir freuen uns wie immer über eure persönlichen Erfahrungen, Rückmeldungen und Kritiken.

TIPPS zum Umgang mit Social Media

Sei ehrlich: Poste bewusst auch mal von schlechten Verhältnissen. Mache es ersichtlich, wenn du altes Archivmaterial postest, das nicht zu den aktuellen Verhältnissen passt.

Sei mutig: Berichte vom Scheitern, vom Verhauer, vom unnötig eingegangenen Risiko. Nur so können wir als digitale Alpincommunity dazulernen und müssen die Fehler nicht erst selber machen.

Sei realistisch: Spiegelt dieser Post jetzt einigermaßen die Realität wider oder beschönige ich diese bewusst?

Zeige Verantwortung: Auch wenn dein Account nur 15 Follower hat, die Empfänger*innen deiner Botschaften sind immer Menschen, die durch deine Inhalte beeinflusst werden. Einen Verzicht auf einer Bergtour zu kommunizieren, zeugt von Kompetenz und erzeugt Vertrauen sowie eine persönliche Nähe.

Übe den Verzicht: Es kann auch sehr befreiend sein, Bergtouren zu unternehmen, ohne jeden Schritt zu dokumentieren – erleben statt inszenieren.

TIPPS zum Umgang mit Social Media für FUNKTIONÄR*INNEN

Medienverwendung: Wenn du Fotos oder Videos für die Medienarbeit deiner Sektion machen willst, kläre die Verwendung bei der Anmeldung zur Veranstaltung, oder wenn neue Kinder zu eurer Gruppe dazukommen.

Freigabe: Neben der Klärung der Rechte kannst du Kinder und Jugendliche auch Bilder “freigeben lassen”. Ein Cloud-Link und zwei Ordner reichen aus, um mitentscheiden zu können, welche Bilder veröffentlicht werden dürfen.

Kanäle: Machen Teilnehmer*innen Fotos, sprecht über die private Verteilung in Messengerdiensten oder auf Social-Media-Kanälen. Nicht alle finden es cool, Fotos von sich online oder am Handy von Freunden wiederzufinden. Beim Liken, Kommentieren oder Verbreiten von Bildmaterial hilft: “Think before you post”. Wenn du auf deinen privaten Social-Media-Accounts über dein Engagement im Alpenverein berichtest, verwende Fotos sehr achtsam und nur mit Zustimmung der sichtbaren Personen.

Veröffentlichung: Stimmen die Personen, die auf dem Bild zu sehen sind, einer Veröffentlichung zu?

Sensible Inhalte: Könnte das Foto oder dein Kommentar jemanden verletzen oder könnte das Foto missbräuchlich verwendet werden? Hätte ich auch später noch ein gutes Gefühl, es öffentlich gemacht zu haben?

Kommunikation: Verwende Gruppen in Messengerdiensten für die Organisation von Alpenvereinsveranstaltungen oder zur Kommunikation in eurer Gruppe nur nach vorheriger Einverständnisklärung aller Teilnehmer*innen. Bei Gruppen mit Minderjährigen haben zwei Personen aus dem Team Zugang zur Gruppe.

 

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Simon Schöpf betreut die digitalen Kanäle des Österreichischen Alpenvereins und die Onlinewelt von bergundsteigen, ist freiberuflicher Journalist (www.bergspektiven.at) und leidenschaftlicher Bergsportler.

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