Wir, die wir viel draußen unterwegs sind, wir Bergsport-Begeisterte, wir Kletter*innen, Tourengeher*innen, Biker*innen. Wir gefallen uns oft gut in unserer Rolle, oft auch in unseren Outfits, in denen wir schnell als solche erkannt werden. In unserem Selbstverständnis. Und viele von uns geben diese Begeisterung auch gerne weiter. Weil wir nicht nur überzeugt davon sind, wie geil das ist, sondern auch, weil wir überzeugt davon sind, wie wichtig, wie Lebenswertvoll es ist, viele gute Tage in und mit der Natur zu verbringen. Wie viel das einem Leben geben kann, wie stark es ein Leben machen kann.

Selbstverständlich?

Ein Selbstverständnis bringt manchmal auch mit sich, zu übersehen, dass dieses Verständnis nicht alle teilen (können). (Unlängst habe ich bei einem Elternabend über die Herbarien der Kinder gesprochen und lange nicht bemerkt, dass keine der anwesenden Eltern wussten, wovon ich spreche…) Für unser Selbstverständnis als „Outdoor-Menschen“ bedeutet das, dass wir oft die Hürden gar nicht sehen können, die andere daran hindern, rauszugehen, Tage draußen zu verbringen:

„Skitouren gehen, das wäre mal was, aber die Ausrüstung musst du dir erst mal leisten können. Und dann sollte man auch noch Skifahren können.“
„Wandern gehen wäre sicher schön, aber wo geht man da hin, wie findet man die Wege…?“
„Natur ist nichts für mich, da hatte ich noch nie was damit zu tun, das brauch ich nicht (ist irgendwie auch unheimlich und unberechenbar).“

Ja, die Hürden können – nicht zuletzt – auch im Kopf bestehen. Wenn wir es wirklich ernst meinen damit, dass es wichtig ist, Menschen dazu zu bewegen, ihre Wege ins Freie zu suchen und zu finden, dann müssen wir Wege öffnen für Menschen, die unser Selbstverständnis nicht teilen.

Selbsterkenntnis & Fremdverständnis

Konkret heißt das, wir müssen Angebote schaffen bzw. aufzeigen, die außerhalb unseres Selbstverständnisses liegen. Basale, niederschwellige Angebote. Angebote, die auch in ihrer Darstellung vermitteln: Jede*r kann mitmachen! Quasi „barrierefreie“ Angebote. Die Palette solcher Angebote im ÖAV ist großartig. Sie sind es wert, gestärkt und gezeigt zu werden. Und sie sind es wert, ihr eigenes Selbstverständnis zu entwickeln.

Nicht als kleines Geschwister des „Bergsport-Selbstverständnisses“, sondern vielmehr als Zwilling, ohne den der Andere nur halb ist. Angebote, die zur Professionalisierung jener beitragen, die ihre Wege ins Freie bereits gefunden haben, die diese Wege begleiten und erweitern, sind von unschätzbarem Wert. Nicht zuletzt für die ganz persönliche Entwicklung derer, die daran teilhaben. (Aber sie sind auch ein bisschen elitär.) Ihr Zwilling sind jene Angebote, die am Anfang stehen.

Die den Menschen Wege ins Freie eröffnen, die sie selbst noch nicht gefunden haben, nicht finden können. Es sind die Angebote für Familien mit auch sehr kleinen Kindern. Es sind die Angebote für Kinder und Jugendliche in „naturfernen“ Milieus. Es sind die Angebote ohne offensichtlichen Berg- und Outdoorsport-Bezug. Angebote, die jenen, die sie ansprechen wollen, keine Hürden – weder gegenständliche noch gedankliche – bereitstellen. Hürden werden nämlich nur allzu gerne in Anspruch genommen, als Vorwand, das gewohnte Terrain nicht verlassen zu können, um die Komfortzone der gezähmten Welt nicht zu durchbrechen.

NaturbeziehungLet it flow…

Diese Angebote sind es, die Menschen eine Welt eröffnen, die ihnen andernfalls verschlossen bliebe. Die Welt, aus der wir alle kommen – die weite Natur, die wilde Natur, die eiskalte, glühend heiße, alles fordernde, sanft tiefenentspannende, unendlich befriedigende Natur. Das Bedürfnis nach Nähe und Verbindung zu dieser Natur schlummert in uns allen. Genau genommen sind wir alle diese Natur und wir sind nicht ganz, wenn wir das nie erlebt haben. Wir, die wir das schon erleben durften, die wir vertraut sind mit unserer Natur, suchen Berge, Wüsten, Trails, Powder. Zeigen wir jenen, die sich ihrer Natur noch nicht gewiss sind zuerst einmal den Wald, den Bach, das Gefühl nackter Füße auf sonnenwarmer Nadelstreu … Das ist der Anfang, die Quelle. Und wo keine Quelle ist, da wird kein Fluss.

Inseldasein?

Wahrscheinlich leben wir … auf einer Insel der Seligen …“ und „die die es wirklich brauchen, kommen nicht …(zu unseren Angeboten, Anm.)“, schreibt Sybille in ihrem Beitrag. Und sie stellt die Frage, wie wir diejenigen, „die es wirklich brauchen“ ansprechen können.

Nun, ein wenig – denke ich – hat das mit Hans und Hänschen zu tun: Wenn es mir als Kind nicht gewährt wurde, mich mit meiner Natur vertraut zu machen, Naturvertrautheit zu erfahren, dann wird es mir im Erwachsenenalter umso schwerer fallen, mich als Teil der Natur wahrzunehmen. Dann werde ich mein innerstes Bedürfnis nach Verbundenheit mit der Natur, aus der wir alle kommen, nicht erkennen (spüren werde ich es sehr wohl). Und dann wird sich mir die Bedeutung von Angeboten, die dies ermöglichen wollen, nicht erschließen.

Selbstdarstellung

Lasst uns also stark und selbstbewusst die Angebote in die Auslage stellen, die sich an Hänschen*Gretel und ihre Eltern wenden. Die basalen Angebote, die mit wenig auskommen – wobei „wenig“ die ganze Natur mit ihrer unendlichen Vielfalt beinhaltet – und Großes bewirken können: nämlich das Ganzwerden von Menschen durch die Initiierung eines Prozesses des Vertrautwerdens mit ihrer Natur. Und lasst uns in unserer Rolle und in unserem Selbstverständnis selbstbewusst auftreten.

Die basale Arbeit wird oft als „Kleinkram“ wahrgenommen. Und damit meine ich nicht zwingend nur die Fremdwahrnehmung! Denn „was nichts kostet bzw. mit wenig auskommt, kann nicht viel wert sein“. Lasst uns immer wieder deutlich klar stellen, was dahinter steckt, wenn vordergründig die Action fehlt. Sowohl in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien, als auch in den Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten.

Je selbstbewusster wir sind, desto sichtbarer sind wir. Je sichtbarer wir werden, desto mehr Menschen erreichen wir; je mehr Menschen wir erreichen, desto stärker wird unser Selbstverständnis.

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Michel Max Kalas ist freischaffender Biologe und Outdoor-Trainer. Er widmet sich im Besonderen der basalen Naturerfahrung und Naturvermittlung für (jüngere) Kinder und der ökologischen Bildung.

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