Beginnt mit neuen digitalen Tools wie dem Skitourenguru eine neue Ära der Tourenplanung im Wintersport? Wo liegen die Potenziale und Risiken von algorithmischen Tourenvorschlägen? Und wo setzt die Verantwortung der alpinen Vereine an? Ein Gespräch mit Günter Schmudlach, dem Guru hinter dem Planungstool Skitourenguru.

 

DREI D: Kurz und bündig – was ist der Skitourenguru?

 

Günter Schmudlach: Skitourenguru ist ein Online-Tool, das dich bei der Auswahl und Planung einer geeigneten Skitour mit tiefem Lawinenrisiko unterstützt. Zu diesem Zweck weist Skitourenguru tausenden Skitouren im Alpenraume täglich ein Lawinenrisiko zu. Vereinfacht ausgedrückt, wird in einer «Quantitativen Reduktionsmethode (QRM)» das Gelände mit dem Lawinenlagebericht verschnitten. Die auf der Route durchquerten Risiken ergeben zusammengeführt das Lawinenrisiko für die gesamte Route.

Aus Lawinenbulletin und statischer Lawinengefahrenkarte wird mit Hilfe der QRM die Risikokarte berechnet.

Dieses wird ähnlich einer Ampel mit drei Farben angezeigt: Grün steht für «Tiefes Lawinenrisiko», Orange für «Erhöhtes Lawinenrisiko» und Rot für «Hohes Lawinenrisiko». Wichtig dabei: «Grün» bedeutet nicht kein Lawinenrisiko, sondern lediglich tiefes Risiko.

Die Routenansicht zeigt das Lawinenrisiko jedes Abschnitts sowie statische Schlüsselstellen.

Wo versteckt sich die Magie? Was kann Skitourenguru besser, als es bisherige Tools oder gar menschliche Einschätzungen können?

 

Bisherige Tools haben drei Probleme: Erstens werden sie stiefmütterlich oder gar nicht genutzt. Entsprechende Umfragen zeigen ein klares Bild. Zweitens haben sie ein Konsistenz-Problem. Das heißt: Mehrere Wintersportler*innen, die dasselbe Tool für dieselbe Situation anwenden, kommen zu unterschiedlichen Resultaten. Drittens ist es nicht möglich, Hunderte von Routen mit einer Reduktionsmethode zu vergleichen. Das ist einfach viel zu aufwendig. Niemand macht das.

Günter Schmudlach: «Die Verantwortung liegt bei uns»

Eine Maschine hat keine Bedürfnisse, keine Träume, keine Gefühle. Sie hat auch nicht das Bedürfnis, Eindruck zu schinden. Deshalb kann sie sich bei der Planung auf das Wesentliche konzentrieren: Gelände und Lawinenlagebericht. Das Ergebnis sind objektive und vergleichbare Beurteilungen.

 

Birgt der derzeitige Hype um Künstliche Intelligenz (KI) für den Skitourenguru tatsächliche Potentiale?

 

Der Begriff «Künstliche Intelligenz (KI)» weckt große Erwartungen. Technisch gesehen fallen die von Skitourenguru verwendeten Methoden (Kernel Density Estimation & Generalized Additive Model) durchaus in den Bereich der KI. Ein Algorithmus lernt aus Unfall- und Nichtunfalldaten (GPS-Tracks). Insofern ja, KI hat ein enormes Potenzial für die Lawinenunfallprävention.

 

Man muss aber auch immer hinter den Hype schauen: Die KI-Bewegung gibt es schon seit zehn bis 20 Jahren. Der Begriff «KI» an sich ist schon problematisch: Er weckt die Erwartung, dass es sich um eine Intelligenz handelt, wie wir Menschen sie für uns in Anspruch nehmen. Bei vielen Anwendungen handelt es sich immer noch eher um eine «künstliche Dummheit». Ich habe ChatGPT testweise nach einer Tourenbeschreibung für den Piz Giuv gefragt.

 

Da die KI nicht wirklich weiß, was eine Tourenbeschreibung ist, mischt sie die Tourenbeschreibungen des Internets zu einer Antwort. Die Blödsinnigkeit des Ergebnisses ist fast schon wieder lustig. Aber man muss unvoreingenommen an die Sache herangehen. Vielleicht entwickelt in Zukunft jemand eine spezialisierte KI für Tourenbeschreibungen.

 

Sollte das Planungstool Skitourenguru bereits in der Jugendausbildung und in Kursen der Alpenvereine wie risk’n’fun geschult werden?

 

Auf jeden Fall! Junge und ältere Menschen nutzen Skitourenguru so oder so. Deshalb ist es fast zwingend, dass die Verbände den Skitourenguru schulen und über seine Möglichkeiten und Grenzen diskutieren. Bisher wird das Thema zwar oft nur gestreift. Es genügt nicht, zu sagen: Schaut mal, da ist ein cooles neues Tool – spielt mal damit. Man muss schon verstehen, was dahinter steckt, wo der Nutzen und wo die Grenzen sind. Diesen kritischen Umgang sollten die Alpenvereine schulen.

 

Ich finde gerade den Vergleich zwischen analoger und automatischer Planung sehr spannend; das bietet Lerneffekte für beide Seiten. Das heißt, wir machen zuerst eine klassische Tourenplanung – wie wir sie gelernt haben – und vergleichen das Ergebnis dann mit dem Skitourenguru. Vor allem die orangen und roten Bereiche müssen wir uns anschauen. Wir können dann kritisch diskutieren, wer warum zu welchem Ergebnis kam.

 

Auch die Nachbesprechung der Touren, das sogenannte Debriefing, ist mit das Wichtigste in der Lawinenausbildung. Auch hier ist der Guru spannend einzusetzen. Wir können – in Zukunft – bei Guru die begangene Tour hochladen und nochmals bewerten lassen. So erhalten wir eine «objektive» Rückmeldung. «Feedback» ist gerade im Wintersport ein rares und wertvolles Gut.

Was passiert, wenn dann jede*r mit dem Handy in der Hand in den Bergen unterwegs ist und sich abgekoppelt von den ganzen anderen Informationen und Zeichen nur mehr auf das Display verlässt? Siehst du eine Gefahr der Blendung durch Technologie?

 

Es gibt keinen vernünftigen Grund, anzunehmen, dass die Menschen ihr Gehirn zu Hause lassen, nur weil neue Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Ganz im Gegenteil: Wenn ein/e Wintersportler*in mit Hilfe von Skitourenguru eine Route ausgewählt hat, stehen ihm/ihr auf einer einzigen Seite sehr viele Informationen zur Verfügung, die Fragen aufwerfen. Fast alle Informationselemente auf Skitourenguru sind mit Links hinterlegt. Dieses Angebot wird rege genutzt.

Foto: Simon Schöpf

Skitourenguru bleibt aber immer ein Auswahl- und Planungstool. Das kann nicht oft genug betont werden. Draußen im alpinen Wintergelände werden Informationen zugänglich, die Skitourenguru nicht zur Verfügung stehen. Wer in Theorie und Praxis lernt, diese Informationen zu lesen, kann die Lawinenrisikoeinschätzung von Skitourenguru nach oben (stop) oder unten (go) anpassen. Aber Vorsicht: Manchmal ist die Natur geizig und gibt uns nur wenige oder widersprüchliche Informationen. Dann sind wir auf das angewiesen, was uns die Reduktionsmethoden (Stop or Go, DAV-Snowcard, GRM, PRM) oder eben Skitourenguru sagen.

Wohin führt es, wenn wir vom Internet einen GPS-Track herunterladen und diesem dann blind folgen?

 

Das Internet bietet eine Fülle von qualitativ sehr unterschiedlichen GPS-Tracks. In Zukunft werden Algorithmen GPS-Tracks berechnen können. Diese GPS-Tracks werden in ihrer Masse eine «relativ hohe Qualität» aufweisen. Es werden aber auch immer wieder Nieten darunter sein. Klar, ich kann mir irgendeinen GPS-Track herunterladen und diesem blind folgen. Letztendlich ist die Problematik aber nicht neu. Wie oft folgen wir einer Spur oder einer Gruppe, ohne uns groß Gedanken zu machen? Der gesunde Menschenverstand ist immer noch gefragt. Wenn wir wollen, dann können wir kritische und mündige Bürger*innen werden. Geschenkt ist das nicht.

Wird die eigene Risiko-Einschätzung durch den Skitourenguru potenziell negativ beeinflusst?

 

Welches Maß an angemessener Risikoeinschätzung vermag die Skitourengemeinschaft aufzubringen? Das weiß niemand so genau. Wahrscheinlich ist die Bandbreite groß. Die Vorstellung, dass in der Vergangenheit alles gut war und die erlernten Fähigkeiten mit dem Aufkommen neuer Tools plötzlich verschwinden, halte ich für realitätsfern. Im Gegenteil: Skitourenguru wirft Fragen auf. Ein großer Teil der Wintersportler*innen (nicht alle) wird diesen Fragen nachgehen. Da habe ich Vertrauen in den Menschen.

 

So oder so: Wenn die Skitourengemeinschaft «grüne» Routen auswählt, werden die Unfallzahlen zwangsläufig zurückgehen – und zwar unabhängig von der Wirkung von Skitourenguru auf die eigene Risikoeinschätzung.

Macht der Skitourenguru Tourenplanung zu einfach? Geben wir einfach Verantwortung auf ein Planungstool ab?

 

Die traditionelle Lawinenkunde hat zumindest ein Problem: Sie ist komplex. Das gilt schon für die «probabilistische Lawinenkunde», aber ganz besonders für die «analytische Lawinenkunde», die wieder einmal «en vogue» ist. Jede Vereinfachung macht die Lawinenkunde zugänglicher und führt damit zu einer vermehrten Anwendung. Das reduziert die Unfälle. Das ist der springende Punkt. Deshalb gibt es «zu einfach» nicht.

 

Skitourenguru ist ein Planungstool, das seine Stärke zu Hause entfaltet. Vor Ort und im Einzelhang werden in der Regel neue Informationen zugänglich, die eine Aktualisierung der Risikoeinschätzung erlauben. Aus diesem Grund liegt die Verantwortung vor Ort und im Einzelhang bei jedem einzelnen Gruppenmitglied sowie bei der Gruppenleitung, sofern eine solche vorhanden ist. Letztendlich ist diese Sportart völlig freiwillig. Wir begeben uns freiwillig, wissentlich und willentlich in unsicheres Gelände. Die Verantwortung liegt also bei uns.

 

Was bedeutet das für die Frequenz in den Bergen? Lenkungsmaßnahmen als ein gewünschtes Ziel?

 

In einer Leistungsgesellschaft ist es nicht verwunderlich, dass «Skitourengehen» zum Trendsport wird. Dass der Mensch in einer so krass entfremdeten Welt die Bewegung in der Natur sucht, wundert mich nicht. Dass diese Entwicklung besonders stark durch die Verfügbarkeit neuer Tools getrieben wird, kann ich nicht glauben. Nach acht Stunden am Computer merke ich, dass ich vielleicht doch ein Kind der Natur bin. Dann muss ich raus.

Foto: Simon Schöpf

Es gibt heute schon einzelne Hotspots, wo die Frequenzen unverträglich hoch sind und die Auswirkungen auf die Natur erheblich sind. Dem muss mit Lenkungsmaßnahmen, auch mit Verboten, begegnet werden. In der Schweiz ist dieser Prozess bereits weit fortgeschritten. Aus Sicht des Umweltschutzes ist und bleibt das «Auto» das größte Problem. Das Potenzial der «öffentlichen Verkehrsmittel» bzw. des Bikes ist noch lange nicht ausgeschöpft.

Kann Skitourenguru auch ein falsches Gefühl der Sicherheit suggerieren?

 

Wir sollten die Bewertungen von Skitourenguru immer hinterfragen. Ich schaue mir seit Jahren fast täglich die Ergebnisse von Guru an. Vieles gefällt mir. Aber nichts ist perfekt. Es gibt immer auch suboptimale Bewertungen. Eine solche kritische Auseinandersetzung mit Skitourenguru geht aber nicht ohne eine entsprechende theoretische und praktische Ausbildung. Da können die Alpenvereine ansetzen. Das braucht Zeit und Raum. Sind wir bereit, uns diese Zeit und diesen Raum zu geben?

 

 

+ posts

Simon Schöpf betreut die digitalen Kanäle des Österreichischen Alpenvereins und die Onlinewelt von bergundsteigen, ist freiberuflicher Journalist (www.bergspektiven.at) und leidenschaftlicher Bergsportler.

Comments are closed.