Über die pädagogischen Potenziale beim Klettern

Der Kletterboom ist ungebrochen, Kletter- und Boulderhallen sprießen wie Schwammerl aus dem Boden und bei so manchem beliebten Klettergarten muss man früh dran sein, um die begrenzten Liegestühle rechtzeitig mit seinem Badetuch zu markieren. Damit einher geht eine Professionalisierung, die nicht nur den Leistungssport, sondern auch den Hobbybereich und den Alpenverein erreicht hat. Viele unserer Sektionen profitieren von der großen Nachfrage nach Kletterkursen und dem Zulauf von neuen kletterhungrigen jungen Mitgliedern.

Frei nach Monty Python frage ich euch also, neben den ganzen positiven Aspekten wie den vielen Trainingsmöglichkeiten, der Zeit draußen in der freien Natur, den spannenden Kletterreisen in andere Länder, den vielen neuen Mitgliedern im Verein, den vielzähligen gesundheitlichen Vorteilen und dem Spaß, …

…was sonst hat Klettern je für uns getan?

Diese natürliche Art der Fortbewegung ist uns in die Wiege gelegt bzw. nützen wir diese schon recht früh, um aus ebendieser zu entfliehen. Unsere Kletterstunden in der Halle, unsere Ausflüge in die Klettergärten und unsere alpinen Abenteuer bieten über die oben erwähnten positiven Aspekte hinaus jede Menge Potenzial, Kindern und Jugendlichen so einiges mit auf den Weg zugeben.

Man geht nicht nach dem Klettern zum Kaffeetrinken, Kaffeetrinken ist integraler Bestandteil des Kletterns. (Wolfgang Güllich)

Doch was versteckt sich eigentlich hinter dem sprichwörtlichen Kaffee, der, laut Wolfgang Güllich, integraler Bestandteil des Kletterns ist? Und welche pädagogischen Potenziale schlummern im vermeintlich simplen Klettern?

Kletterkids sind mutig

Ausnahmen (wie ich) bestätigen die Regel. Auf Nichtkletterer und Nichtkletterinnen mag unser Tun manchmal angsteinflößend wirken: Stürze, Steinschlag, jede Menge Luft unterm Hintern, Abschürfungen und blutige Finger. Warum tut man sich das an? Im vermeintlich geschützten Rahmen der Kletterhallen sind die Berührungsängste dann doch nicht mehr so groß und so gut wie alle Aspirant*innen überwinden ihren anfänglichen Respekt und die vormals oft selbst diagnostizierte Höhenangst. Nach den ersten Toprope-Versuchen fragen Kinder oft, warum die anderen Kletterinnen und Kletterer das Seil selbst einhängen. Sofort wollen sie dann Vorstieg klettern. Sind die Hände auch noch so klein, die Abstände noch so groß, ein Sturzrisiko wird mutig in Kauf genommen.

Wer mit Kindern im Klettergarten unterwegs ist, kennt die Situation: In einer Kletterroute versucht ein Kind bereits seit einer gefühlten Ewigkeit, das Seil in die Expressschlinge zu klinken. Immer und immer wieder wird Seil nachgeholt, diese und jene kreative Lösung probiert, es werden die Hände gewechselt, geschüttelt, die Kräfte lassen nach, wieder fällt das Seil, wieder wird es mühsam hochgeholt und in dem Moment, wenn man glaubt es geht nicht mehr, *klick*, ist es geschafft. Das stolze Lächeln des Kindes verrät, dass es mit sich und der gemeisterten Herausforderung mehr als zufrieden ist. Auch der Puls als Begleiter*in am Boden beruhigt sich wieder. Zwei Meter höher beginnt das Spiel wieder von Neuem.

Egal, ob Kletterhalle oder Nordwand: Die verschiedenen Handlungsfelder beim Klettern bieten Kindern und Jugendlichen unzählige Möglichkeiten, aus einem oftmals überbehüteten und risikolosen Alltag auszubrechen. Wir als Alpenvereinsjugend begleiten dabei, schaffen die passenden Rahmenbedingungen und unterstützen, wenn notwendig. Die Kinder und Jugendlichen suchen sich ständig neue Herausforderungen und sind bereit, dafür Risiken einzugehen. An neuen Herausforderungen können sie wachsen. Spätestens wo Risiko zu Gefahr wird, sind wir gefordert, einzugreifen.

Welche positive Risikoerfahrung deiner Kinder und Jugendlichen ist dir besonders in Erinnerung geblieben?

Kletterkids lieben Verantwortung

Okay, lieben ist vielleicht ein zu starkes Wort. Riskante Entscheidungen für sich selbst zu treffen, ist eine Sache. Doch beim Klettern sind wir, zum Glück, selten alleine unterwegs. Da bleibt es nicht aus, Verantwortung für andere zu übernehmen. Bereitwillig stellen sich bereits kleine Kinder dieser Aufgabe und sichern selbstbewusst ihre Kletterpartner*innen. Draußen auf Klettertour gilt es, Entscheidungen zu treffen, die nicht nur mich selbst, sondern auch meine Freunde bzw. Freundinnen betreffen. Welche Route suchen wir aus? Wie legen wir den Zustieg an? Wer übernimmt die Führung in einer schwierigen Seillänge? Wer richtet den Abseilstand ein? Welches ist der beste Abstieg für die Gruppe? Hält das Wetter oder sollen wir besser umkehren?

Viele dieser Entscheidungen sind nicht alleine zu treffen. Handlungen und Entscheidungen fällen wir bewusster, wenn es dabei auch um andere geht. Unsere Kinder und Jugendlichen sollen sich, wenn sie dann ohne uns mit ihren Freunden und Freundinnen unterwegs sind, trauen, diese Verantwortung zu übernehmen. Deshalb müssen wir ihnen dazu, während unserer gemeinsamen Zeit am Fels, auch die Gelegenheit zum Üben geben.

Wir als Jugendleiter*innen und Familiengruppenleiter*innen müssen lernen, Verantwortung abzugeben, um diese zu ermöglichen. Auch wenn uns das manchmal schwerfällt. Umso schöner ist es dann, mitanzusehen, wenn ehemalige Kletterkids aus ihrer Rolle herauswachsen, Ausbildungen besuchen und mit ihrer eigenen Gruppe draußen unterwegs sind. Sie übernehmen bereitwillig Verantwortung für die Begleitung der nächsten Generation. Wir müssen sie nur lassen.

Welche inspirierenden Momente, in denen deine Kinder und Jugendlichen beim Klettern Verantwortung übernommen haben,  fallen dir ein?

Kletterkids sind achtsam

Okay, das klingt zu schön, um wahr zu sein. Obwohl, bei genauerem Hinsehen ist da schon was dran. Klettern mag zwar Einzelsport sein, doch sind wir eng mit unserer eigenen und der Gefühlswelt der anderen verbunden. Die Stimmung hat große Auswirkung auf die Kletterperformance und die Gefühle unserer Kletterparnter*innen lesen wir oft wie die Züge einer Route. Bei den ersten Kletterzügen lässt sich oft bereits erkennen, wie es um meinen Partner oder meine Partnerin heute bestellt ist. Kinder merken in der Regel instinktiv, wenn sich jemand fürchtet und teilen uns Begleiter*innen das auch mit. Sind die Züge eher zaghaft und ängstlich, ist die Tour vielleicht zu schwierig oder er bzw. sie ist mit dem Kopf heute nicht so ganz bei der Sache. Durch gutes Zureden, Anfeuern, Tipps-Geben oder einfach durch konzentriertes Sichern helfen wir einander aus.

Wir freuen uns gemeinsam, wenn eine Route geschafft oder ein Boulderproblem geknackt wurde. Wenn es mal nicht so läuft, bauen wir uns gegenseitig auf. Nur mit Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen kann ich Stimmungen erkennen, die mein Gegenüber so noch gar nicht ausgesprochen hat. Das kann beispielsweise helfen, eine schwierige Tour rechtzeitig abzubrechen oder sich bereits im Vorhinein für andere Ziele zu entscheiden. Wichtig ist dabei, auch vor den Kindern und Jugendlichen mit der eigenen Gefühlswelt nicht hinter dem Berg zu halten. Wer immer selbst den starken Mann oder respektive die Frau gibt, kann nicht erwarten, dass seine Kinder das einmal anders machen. Eine Begleitung auf Augenhöhe ist die Basis dafür.

Was bedeutet für dich Begleitung auf Augenhöhe?

Kletterkids lernen fürs Leben

Klingt etwas überspitzt, ist aber so. Nach diesem Lobgesang aufs Klettern sollten Kinder wohl weniger die Schulbank drücken und mehr klettern gehen. Die beim Klettern erlernten Soft Skills sind jedenfalls auch in anderen Lebenssituationen hilfreich. Egal, ob in der Familie, im Umgang mit Freunden und Freundinnen, in der Schule oder im Beruf und vielem mehr. Im Gegensatz zur Erlebnispädagogik ist es in der Alpenvereinsjugend zwar nicht primär unsere Aufgabe, klettern zu gehen, um ein bestimmtes Ziel zu errreichen oder vorab festgelegte Kompetenzen zu fördern. Doch sollten wir uns die pädagogischen Potenziale des Kletterns immer wieder bewusstmachen. Wenn wir es verabsäumen, diese Handlungsräume zu eröffnen, haben wir den Kindern und Jugendlichen potenzielle Wachstumschancen vorenthalten.

Was hat dich das Klettern gelehrt?

Kletterkids lieben Kaffee

Nein, Kletterkinder lieben natürlich Kakao. Was Wolfgang Güllich mit dem Kaffee wohl meinte, ist, dass die Gemeinschaft beim Klettern auf keinen Fall zu kurz kommen darf. Wir in der Alpenvereinsjugend schaffen ein Umfeld, in dem Kinder und Jugendliche aus ihrem oft sehr durchgeplanten Alltag entfliehen können. Unter Gleichgesinnten dürfen und sollen sie sich auch mal austoben, einfach Spaß haben und ganz sie selber sein dürfen. Und wenn sie, Gott bewahre, mal keine Lust zum Klettern haben, dann gehen wir halt Kakao trinken.

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David Kupsa ist pädagogischer Mitarbeiter in der Alpenvereinsjugend und für die inhaltliche Betreuung der Bildungsprogramme verantwortlich.

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